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Juni 2008
Getreide wird im Norden Malis nicht nach Gewicht sondern, wie bei uns frueher auch, in Hohlmassen gemessen. Im Norden heisst dieses Hohlmass saval, der Name stammt aus dem Fulbe, und variiert zwischen 2,8 und 3,75 kg Paddy, ungeschaelten Reis (Bild 1). Im Kreis von Niafunke fasst das Hohlmass 3,75 kg; ein Sack Reis wird ueblicherweise mit 20 saval gefuellt und wiegt 75 kg.
In der kleinbaeuerlichen Mangelwirtschaft des malischen Nordens hat der saval einen zentralen Platz. In saval wird gemessen, wie viel Getreide man fuer den taeglichen Verbrauch auf dem Markt kauft (Bild 2) oder dem Speicher entnehmen kann. Von Juni bis September ist die periode de soudure, die schwierige Zeit der Ueberbrueckung zwischen den Ernten.
In der haeuslichen Oekonomie ist alles bis ins Kleinste geregelt und bemessen. Jeden Tag wird die gleiche Menge Getreide dem Speicher entnommen, im gleichen Topf gekocht (Bild 3) und eine Schuessel voll Reis oder Hirse zubereitet und serviert, unabhaengig davon, wie viele zusaetzliche Personen mit essen.
Innerhalb der im Flusstal dominanten Songhai-Kultur variieren Sitten und Braeuche je nach Ort und Familie leicht. Deutlich wird das unter anderem an der Bewirtschaftung des familieneigenen Getreidespeichers. Auf Versammlungen in den Doerfern oder am Rand der Bewaesserungsfelder stoesst die Frage, wer den Schluessel zum Speicher hat, bei den Frauen regelmaessig auf grosse Heiterkeit. Auskunft geben sie bereitwillig: die erhobenen Haende zeigen, welche Frauen den Schluessel zum Speicher selbst haben (Bilder 4 und 5).
Im Dorf Tessakan verwalten von 22 anwesenden Frauen 19 den Speicher selber (Bild 6), der Mann hat keinen Schluessel dazu. Bei der Einlagerung der Saecke zeigt der Mann: „Dies ist die Nahrung fuer die Familie. Es geht um Deine Kinder und um mich als Mann. Wir alle sind die Familie. Es muss reichen und du musst sehen, dass du kein Getreide verschwendest.“ Damit ist der Mann seiner Pflicht, die Kinder zu ernaehren, nachgekommen (Lala Sekou, Songhai, 45 Jahre alt, verheiratet, 5 Kinder, Tessakan).
Seit 2005 hat Mariama Hamadou eine Parzelle auf dem Bewaesserungsfeld von Tessakan. Sie hat fuer sich und drei ihrer Kinder zu sorgen. „Dank der Parzelle kann ich meine Familie ernaehren. Vorher war das Leben sehr schwierig. Ich kann nicht mal erklaeren, wie ich das Leben gemeistert habe. ... Ich entnehme drei saval Reis jeden Tag, auch fuer die Alten, das sind meine Verwandten“ (Mariama Hamadou, Songhai, 53 Jahre alt, geschieden, 5 Kinder, Tessakan).
Als der Bruder von Dico Samba, Fulbe, Anfang vierzig, Witwe, 5 Kinder (Bild 7, im Hintergrund ihre Mutter) im Jahr 2001 aus der Elfenbeinkueste nach Koumaira zurueckkehrte, war er 25 Jahre alt. „Die Parzelle habe ich freiwillig an meinen Bruder abgegeben. Wir sind eine Familie. Wir fuehren zusammen einen Haushalt.“ Inzwischen ist der Bruder verheiratet und bewirtschaftet drei Parzellen, auf jedem der Bewaesserungsfelder von Koumaira eine. Auf allen drei hilft Dico Samba beim Vereinzeln der Reispflanzen und bei der Ernte. Die Ernte kommt in den gemeinsamen Speicher. Den verwaltet sie. „Diese Ehre“, sagt sie, „hat mir mein Bruder erwiesen, weil ich die aeltere Schwester bin.“
„Mein Getreide habe ich noch nicht angeruehrt“, sagt Galla Walet Alidjoumata (Bellah, Anfang vierzig, verheiratet, 5 Kinder). In ihrem Haushalt leben zehn Personen (samt Eltern und Schwiegereltern). 2,5 saval benoetigt sie fuer die taeglichen Mahlzeiten. „Wir verbrauchen den Reis aus der Ernte meines Mannes.“ Was macht sie mit ihrer eigenen Ernte? „Die ist einzig fuer die Ernaehrung.“ Welchen Vorteil sieht sie in der eigenen Parzelle? „Ich kann am Ort bleiben. Frueher sind mein Mann, unsere Kinder und ich zur Ernte an den Lac Faguibine gezogen“, drei Tagesmaersche zu Fuss und auf Eselsruecken. Von ein bis zwei Monaten Erntearbeit brachten sie vier bis fuenf Sack Sorghum nach Hause (Tagalift).
Von der Reisernte auf ihrer Parzelle gab Sadatou Amadou (Songhai, 41 Jahre alt, verheiratet, 7 Kinder), drei Sack an ihren Frauenverein und 12 Sack an ihren Mann. Sie gingen in den gemeinsamen haeuslichen Speicher. Ueber den verfuegt sie nicht. Ihr Ehemann gibt ihr den Schluessel zum Lager nur, wenn er verreist. Fuer die elf Personen in ihrem Haushalt gibt er ihr jeden Morgen drei saval Getreide. „Zwischen meinem Mann und mir herrscht Vertrauen. Er gibt mir, was ich benoetige. Manchmal gibt er mir vier oder auch sechs saval, um Seife, Sandalen oder Fisch zu kaufen“ (Sinam).
„Meine Ernte wandert zusammen mit den Saecken meines Mannes in den gleichen Speicher. Alles dient der Ernaehrung der Familie.“ Den Schluessel verwahrt der Ehemann. „Was ich brauche, gibt er mir, manchmal in Reis, manchmal in Geld.“ Minta Mahamdou (Songhai, 43 Jahre alt, verheiratet, 6 Kinder), nennt einige Beispiele: 4.000 FCFA (= 6 Euro) fuer eine Taufe, 250 FCFA (=37 Cent) fuer Seife, 1.500 FCFA (=2,25 Euro) fuer Ohrringe. „Zwischen uns laeuft alles problemlos. Wenn er verreist, gibt er mir den Schluessel. Ich verwahre den Schluessel, denn ich bin die erste Frau. Ich gebe der zweiten Frau dann ihre zwei saval. Ich koche heute, sie kocht morgen. Wir essen aus dem gleichen Topf.“ Sie kochen fuer rund zehn Personen. Die zweite Ehefrau hat keine Parzelle auf dem Bewaesserungsfeld (Sinam).
Aus der Mikroperspektive koennen wir beobachten, wie sich die Oekonomie unter dem Einfluss der Kleinbewaesserung veraendert: Wir beobachten die Schrittfolge vom absoluten Mangel (Ausgangslage) ueber geringfuegige Ruecklagen hin zu ersten Anzeichen bescheidenen Wohlstands (Bild 8).
Im laendlichen Raum des malischen Nordens sind Frauen effiziente Verwalterinnen der Armut. Sie sind gewoehnt, ihren harten Alltag zu meistern und zeigen die Kraft, ihm zu widerstehen. Selbstwertgefuehl, Status und Ansehen der Frauen wachsen, ebenso ihr Mut, ihre eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen und zu veraendern. Die Frauen sind zu einer treibenden Kraft der Entwicklung geworden.
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